S. Matter: Der Armut auf den Leib rücken

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Titel
Der Armut auf den Leib rücken. Professionalisierung der Sozialen Arbeit in der Schweiz (1900–1960)


Autor(en)
Matter, Sonja
Erschienen
Zürich 2011: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Béatrice Ziegler, Pädagogische Hochschule der FHNW

Sonja Matter hat ein wichtiges Buch verfasst. Sie widmet sich in ihrer Dissertation der Professionalisierung der Sozialen Arbeit in der Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Forschungen zu Integration und Ausschluss, zu staatlichen und parastaatlichen Massnahmen gegenüber wirtschaftlich und sozial Schwachen, gegenüber Personen, die jeweils in der Zeit geltende Normen verletzten, haben in den letzten Jahren immer wieder zum Blick auf das Handeln fürsorgerisch Tätiger geführt und die Frage nach deren Legitimation, handlungsanleitenden Vorstellungen und handlungsermächtigenden Diskursen und Institutionen aufgeworfen.

Diesen Akteuren, die heute als solche der Sozialen Arbeit bezeichnet werden, nähert sich Sonja Matter über das Paradigma der Professionalisierung und zeigt, wie sich aus einem Neben-, Mit- und Gegeneinander unterschiedlichster Akteursgruppen seit Ende des 19. Jahrhunderts eine Strukturierung der gesellschaftlichen Tätigkeit im Interesse des Verständnisses von Armut, ihrer Bekämpfung bzw. der Linderung ihrer Folgen entwickelte. Professionalisierung meint dabei die Herausbildung einer eigenen Berufsgattung und ihrer gesellschaftlich eigenständigen Zuständigkeit für ein bestimmtes Handlungsfeld. Damit verbunden ist die wissenschaftliche Erfassung desselben, das Recht und die Möglichkeit, den beruflichen Nachwuchs in eigenen (beruflichen tertiarisierten) Schulen auszubilden und selbst zu definieren, welches die Wissens- und Könnens-, aber auch die ethischen Standards dieses Berufs zu sein haben, sowie die Kraft, sich dank des eigenen professionalisierten Wissens und Könnens gegenüber konkurrierenden Akteuren zu behaupten. Die Untersuchung des Professionalisierungsprozesses in der Sozialen Arbeit in der Schweiz strukturiert Sonja Matter weiter mit den Untersuchungskategorien Geschlecht, internationaler Austausch und Umgang mit theoretischen und methodischen Grundlagen der Sozialen Arbeit.

Ihr Buch ist in drei Teile gegliedert, die den Untersuchungszeitraum teilt in Anfänge, in die Zeit der Zwischenkriegszeit und in die beginnende Nachkriegszeit. Die Kapitel dieser Teile orientieren sich an den oben genannten Kategorien. Sie werden jeweils mit einem knappen zusammenfassenden Text abgeschlossen. Dies wie auch die schlanke, klare Sprache machen das Buch zu einem Lesegenuss, bei dem sich die Inhalte gut strukturiert in die eigenen Wissensbestände einordnen lassen.

Im ersten Teil stellt die Autorin dar, dass es seit den Anfängen im Wesentlichen zwei unterschiedliche Gruppen von Akteuren gab, die sich in der Sozialen Arbeit betätigten: zum einen (meist) bürgerliche Frauen und Frauenorganisationen und zum anderen Verantwortliche öffentlicher Fürsorgeinstitutionen, anfänglich insbesondere die «Armenpfleger». So thematisiert sie in einem Kapitel die Entstehung der sozialen Frauenschulen aus der Fürsorgetätigkeit der bürgerlichen Frauenbewegung heraus. Sie schreibt es einigen wichtigen Persönlichkeiten, die sich auch mittels Studien- und Arbeitsaufenthalten in England und den USA mit neuen Strömungen der Sozialen Arbeit wie etwa der Settlement-Bewegung vertraut gemacht hatten, zu, dass eine erste Institutionalisierung der Beschäftigung von Frauen mit und in der Sozialen Arbeit möglich wurde. Sie geht dabei davon aus, dass von Anfang an neben den sozialen Anliegen das Bemühen, Frauen ein geschlechtsspezifisches Berufsfeld zu eröffnen und gegen Ansprüche konkurrierender Männer zu verteidigen, ein wichtiger Motor für die Professionalisierung der weiblichen Sozialen Arbeit war, eine Interpretation, die auch schon für nordische Entwicklungen geltend gemacht wurde.

Während die sozialen Frauenschulen der institutionelle Ausdruck des weiblichen Engagements in der Professionalisierung der Sozialen Arbeit darstellten, bemühten sich entsprechend tätige Männer darum, die Ausbildung für Soziale Arbeit an den Universitäten zu etablieren, was nicht nur die Soziale Arbeit als Gegenstand eines wissenschaftlich bearbeiteten Wissensfeldes definiert, sondern auch den Männern ein Übergewicht in der Professionalisierung verschafft hätte. Die angefragten Universitäten vertraten dann und noch lange die Auffassung, Soziale Arbeit entspreche nicht einer universitären Wissenschaftsdisziplin, sondern gehöre an eine Institution der beruflichen Ausbildung. Sie schrieben damit ein Verständnis von Sozialer Arbeit fort, in welchem diese selbst nicht Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung ist, sondern vielmehr wissenschaftlich erarbeitete Wissensbestände anderer Disziplinen aufnimmt und weitervermittelt. Sonja Matter vertritt im zweiten Teil, zu den Entwicklungen der Zwischenkriegszeit, die Auffassung, dass die sozialen Frauenschulen und die in ihnen aktiven Dozentinnen und Schulleiterinnen eine in der Zeit moderne, in internationalen Netzwerken diskutierte Konzeption von Armut und von Sozialer Arbeit entwickelten. Sie folgten den Vorstellungen der Fürsorge als Einzelfallhilfe, bezogen aber – wie die frühe Einzelfallhilfe überhaupt – auch strukturelle Armutsrisiken bzw. -ursachen in die Analyse mit ein. Dagegen sieht sie in den Armutsdiskursen der Schweizerischen Armenpflegerkonferenzen, die von den staatlichen bzw. kommunalen Fürsorgeverantwortlichen (Amtsvormundschaften, Fürsorgedirektionen, u.a.m.) dominiert waren, eine die Hilfsbedürftigen stark pathologisierende, paternalistische Tendenz.

Daneben macht sie aber auch deutlich, dass die sozialen Frauenschulen mit ihrer Verpflichtung auf die soziale Mütterlichkeit durchaus eine «Doppelqualifikation» für ihre Absolventinnen anstrebten, indem rund die Hälfte gar nie in der Sozialen Arbeit tätig wurde, sondern offenbar die Schule als vertiefte Ausbildung für eine bürgerliche Hausfrauenarbeit und -stellung absolvierte. Dies hatte für das Ausbildungsprogramm allerdings professionalisierungshemmende Wirkung: Die Fächer waren sehr breit angelegt und dienten nur teilweise einem eigentlich professionalisierten Wissen und Können von Sozialarbeiterinnen (Fürsorgerinnen, Tuberkulosefürsorgerinnen, Heimpersonal, u.a.m.). Gleichzeitig sicherte diese doppelte Ausrichtung die Schulen finanziell mit und half, eine intensive Arbeit in internationaler Vernetztheit im Interesse der Weiterentwicklung der Sozialen Arbeit zu betreiben. Interessanterweise trieb auch die katholisch ausgerichtete Luzerner Schule diese Ausrichtung voran und blieb punkto professioneller Weiterentwicklung nicht hinter den übrigen Schulen zurück. Allerdings brach dieser internationale Kontakt in der zweiten Hälfte der 1930iger-Jahre und während des Krieges zusammen. Sonja Matter gelingt es, zu zeigen, dass diese Isolation durchaus negative Auswirkungen auf die Theorie- und Methodendiskussion in den Gremien der Sozialen Frauenschulen hatte.

Im dritten Teil widmet sie sich den Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie zeigt, dass die internationalen Beziehungen bzw. das Netzwerk schnell und mit Nachdruck erneuert wurden, dass die Schweizerinnen aber auch zu jenen Europäerinnen gehörten, die sich früh und stark an den Austauschprogrammen der Vereinten Nationen beteiligten. Sie wurden damit mit einer menschenrechtlich reflektierten Sozialen Arbeit vertraut, die im starken Kontrast zu den in der Schweiz in den davorliegenden zwei Jahrzehnten praktizierten Konzepten stand, bei denen die Verletzung von Grundrechten häufig bzw. systematisch gewesen waren (insbesondere Anstaltsversorgungen und Fremdplatzierungen).

Neue Konzepte wie die Casework-Methoden wurden rezipiert, stiessen aber wegen deren starker Orientierung an psychoanalytischen und psychotherapeutischen Ansätzen durchaus nicht auf ungeteilte Akzeptanz.

Neben der inhaltlichen Neuorientierung wandelte sich auch die Ausbildung der Sozialen Arbeit. Die Frauenschulen öffneten, unter dem Einfluss der in Bewegung geratenden Geschlechterrollen, aber auch aus finanziellen Gründen, die Ausbildungsgänge konsequenter für Männer und verabschiedeten ihre ideologische Grundlage der sozialen Mütterlichkeit. Der Preis dafür war, dass sich an den Schulen Verhältnisse wie in der gesamten Gesellschaft herstellten: Die Schulen bekamen männliche Schulleiter, ohne dass die Schulen eine hohe Attraktivität für männliche Schüler erlangten. Diese sahen vielmehr im neuen Ausbildungsgang an der Universität Fribourg, der den Durchbruch für eine professionalisierte und tertiarisierte Wissenschaftsdisziplin Soziale Arbeit brachte, eine attraktivere Ausbildungsmöglichkeit.

Sonja Matters Buch liefert eine schlüssige Darstellung der Entwicklung der Professionalisierung der Sozialen Arbeit zwischen 1900 und 1960. Der Fokus auf der Kategorie Geschlecht, auf der Internationalität und auf der Methodendiskussion hat sich als äusserst gewinnbringend erwiesen. Es ist zu wünschen, dass eine weitere Arbeit die jüngere Geschichte der Sozialen Arbeit angehen wird, um in ähnlich strukturierender Weise die weitere Entwicklung analytisch zu durchdringen. Dies wird dann ermöglichen, dass Themen, die hier angesprochen wurden, in weiteren Untersuchungen vertieft angegangen werden können. Dabei könnten dann auch da und dort Nuancen und Zwischentöne in den Entwicklungen, die hier vielleicht doch etwas zu kurz kommen mussten, herausgearbeitet werden. Denn an einigen Stellen musste im Interesse klarer Entwicklungslinien auf intensivere Auseinandersetzungen verzichtet werden, etwa darüber, was denn nun über die Zeit hinweg als der eigentliche Gegenstand der Wissensdisziplin Soziale Arbeit definiert worden ist, welche Grundlagen diese Definitionen haben und wie sich die verändernden Methoden auf die theoretischen Überlegungen beziehen – Themen, die angerissen wurden, aber doch nur soweit, dass die Leserin gerne mehr erfahren würde.

Die Befunde von Sonja Matter verdienen es, in weitere Zusammenhänge gestellt zu werden: etwa in die transnationale Entwicklung der Sozialen Arbeit, die ja in ihrer Untersuchung verschiedentlich angesprochen wird; dann aber auch in eine allgemeine schweizerische Geschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Fokus auf Transnationalität und Abschottung, für den sie wichtige beispielhafte Aussagen liefert. Mit Sicherheit aber verdienen es das Werk und die künftigen Sozialarbeitenden, dass es zur Pflichtlektüre in der Ausbildung wird.

Zitierweise:
Béatrice Ziegler: Rezension zu: Matter, Sonja: Der Armut auf den Leib rücken. Die Professionalisierung der Sozialen Arbeit in der Schweiz (1900 – 1960). Zürich: Chronos 2011. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 77 Nr. 1, 2015, S. 51-55.

Redaktion
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 77 Nr. 1, 2015, S. 51-55.

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